Verweile doch . . . .

„... möcht ich ... auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!“ Das Goethe-Wort aus der letzten Szene von „Faust“ hat mit der jüngsten COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung etwas gemeinsam, was im Alltag der Seuchenzeit eine große Rolle spielen kann.

Ausgangssperre

Bis zum 30. November besteht in Österreich eine nächtliche Ausgangssperre, und man darf seine eigene Wohnung nach 20 Uhr nicht mehr verlassen, es sei denn zur Erholung im Freien oder in bestimmten wichtigen Fällen. Diese Gründe muss man der Polizei glaubhaft erklären können, und wer im Auto sitzt, wird dies schwer als Erholung im Freien darstellen können. Daher wird zuweilen die Meinung vertreten, man müsse den Heimweg so planen, dass man seine eigene Wohnung vor der Ausgangssperre wieder erreicht.

Beginnt oder endet der Heimweg um 20 Uhr?

Die Antwort entscheidet sich nach dem Wortlaut der Verordnung am Wörtchen „verweilen“.   § 2 Absatz 1 COVID-19-SchuMaV lautet:

„§ 2. (1) Zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 ist das Verlassen des eigenen privaten Wohnbereichs und das Verweilen außerhalb des eigenen privaten Wohnbereichs von 20.00 Uhr bis 06.00 Uhr des folgenden Tages nur zu folgenden Zwecken zulässig:
1. Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib, Leben und Eigentum,
2. Betreuung von und Hilfeleistung für unterstützungsbedürftige Personen sowie Ausübung familiärer Rechte und Erfüllung familiärer Pflichten,
3. Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens,
4. berufliche Zwecke und Ausbildungszwecke, sofern dies erforderlich ist, oder Teilnahme an gerichtlichen oder behördlichen Verfahren oder Amtshandlungen, und
5. Aufenthalt im Freien zur körperlichen und psychischen Erholung.“

Dass man die Wohnung nach 20 Uhr nicht mehr grundlos verlassen darf, ist klar. Ebenfalls verboten ist das „Verweilen“ außerhalb der Wohnung und damit sind wir bei Goethe: Dort soll ein Augenblick verweilen, Fausts Glücksmoment also andauern. Dem entspricht nach Duden auch der heutige Sprachgebrauch.

Was ist „Verweilen“?

Am Nachhauseweg soll der Aufenthalt außerhalb der Wohnung jedoch gerade nicht andauern, man will nicht draußen vor der Tür bleiben. Wer also direkt nach Hause strebt, verweilt nicht außerhalb der Wohnung. Die intentionale Bedeutungskomponente des Wortes bewirkt, dass der zügige Heimweg kein Verweilen bildet und daher auch noch nach 20 Uhr erlaubt ist.

Abgesehen davon stellt es gewöhnlich auch ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar, nach Hause zu kommen. Damit lässt sich gegenüber der Polizei auch die Ausnahmebestimmung der Ziffer 3 für den Heimweg während der Ausgangssperre heranziehen.

Auch der ausdrücklich genannte Sinn der Norm spricht nicht gegen diese Auslegung, weil die Ansteckungsgefahr sich auf dem Nachhauseweg wohl kaum anders darstellt als zuhause.