Gespensterstunde

Mitternacht – wer da in Österreich einen Aufsperrdienst braucht, ist auf dessen guten Willen angewiesen und zahlt 24 Euro zusätzlich (Durchschnitt 2015 laut Arbeiterkammer Wien).

Bei einem dringenden Arznei-Ratschlag samt Pillenschachtel tut man sich leichter: Die Apotheke, die dafür zum Bereitschaftsdienst eingeteilt ist, ist bei einem Aufschlag von 3 Euro 80 dazu verpflichtet.

Muss sie das auch bei Kondomen oder bei Süchtlerspritzen? Darf sie das überhaupt? § 8 Absatz 8 Apothekengesetz scheint es ja zu verbieten:

Waren, deren Verkauf den Apotheken nicht ausschließlich vorbehalten ist, ausgenommen Mittel zur Leistung Erster Hilfe und Verbandstoffe, dürfen während der Ladenschlusszeiten der zu ihrem Verkauf gleichfalls berechtigten Handelsgewerbetreibenden in Apotheken nicht abgegeben werden.

Diese Bestimmung wird gerne ein bisschen beiseite gewischt, aber im Recht gibt es keine Obsoleszenz, die ein Gesetzesanwender einfach ausrufen kann. § 8 Absatz 8 Apothekengesetz bleibt geltendes Recht, bis das Parlament anderes beschließt. Zu prüfen bleibt nur, ob dies nicht vielleicht schon geschehen ist, ob der Bestimmung zwar nicht formell, sondern materiell derogiert wurde (i. e.: sie nicht dem Wort nach, aber vom Inhalt her aufgehoben wurde). Sehen wir uns dazu ihre Geschichte an:

Das monarchische Reichsgesetzblatt sorgte sich im Apothekengesetz 1907 und in der Gewerbeordnung 1859 nur um die Sonn- und Feiertagsruhe und um erste Arbeiterschutzvorschriften. Erst im Staatsgesetzblatt Deutsch-Österreichs tauchen 1919 Ladenschlusszeiten in der Gewerbeordnung auf und lange wird bei Einzelhändlern und Apotheken alles über Verordnungen geregelt. Bis es Ende der Fünfzigerjahre kracht: Der Verfassungsgerichtshof hebt mehrere dieser Bestimmungen auf, weil sie nicht dem Legalitätsgrundsatz von Artikel 18 Bundes-Verfassungsgesetz gehorchen.

Der Gesetzgeber behebt den einen Schaden 1957 mit § 8 Apothekengesetz, wobei im oben zitierten und bis heute unveränderten Absatz 8 Bezug auf den Ladenschluss der Gewerbeordnung genommen wird.

Die andere Reparatur bringt mit 1. Februar 1959 das Ladenschlussgesetz. Es sieht erstmals vor, dass die allgemeinen Ladenschlusszeiten für bestimmte Waren und Verkaufsstellen auf Bahnhöfen nicht gelten. Ab diesem Zeitpunkt schon lässt sich die Anwendung von § 8 Absatz 8 Apothekengesetz für einzelne Waren in Frage stellen. Der Abschied vom Ladenschluss-Begriff geht dann 1989 mit dem Öffnungszeitengesetz weiter und mit dem Öffnungszeitengesetz 2003 verschwindet der Ausdruck praktisch ganz aus unserer Rechtsordnung – ausgenommen dem Apothekengesetz. Dort ist er nach meiner Meinung nun nur noch ein juristisches Gespenst, dem der Gesetzgeber den Anwendungsbereich genommen hat.

Apotheker dürfen daher ihre Waren auch im Nachtdienst verkaufen. Verpflichtet sind sie dazu bei Nicht-Arzneimitteln jedoch nur im Falle Erster Hilfe oder bei vergleichbarer Notlage.

Bereits 1987 hielt übrigens das Gesundheitsministerium die Abgabe von Spritzen an Suchtkranke im Bereitschaftsdienst für rechtens.

Ich muss betonen, dass zu dieser Frage auch eine andere Sicht entwickelt werden kann. Eine Lauterkeitsklage nach UWG scheitert aber gewöhnlich dann, wenn eine Rechtsmeinung mit gutem Grund vertretbar ist.